Fast ein Lost Place – Das Kvitfjell

Dem Namen nach ist das Kvitfjell ein weißer Berg. So jedenfalls die Übersetzung des Namens aus dem Norwegischen. Im Winter können wir über das Tal auf das gegenüberliegende Skiparadies schauen. Aber jetzt ist Sommer und ich habe vorgeschlagen, mit unserem Sohn das Kvitfjell zu Fuß zu erkunden.

Von Ringebu aus laufen wir über die alte Eisenbahnbrücke. Sie ist wieder frei, nachdem beim Hochwasser im Gudbrandsdalen die daneben liegende neue Eisenbahnbrücke einstürzte und nun wieder aufgebaut ist. Es geht über den reißenden Lågen, der konstant an den mächtigen Brückenpfeilern nagt, schon bei normalem Wasserstand. Der Lågen prägt Gudbrandsdalen und nimmt all das Wasser von Rondane, dem Dovre und neben unzähligen weiteren Bergen auch des Kvitfjells auf. Viel Wasser, denn lange liegt hier viel Schnee. Und so hat sich das Kvitfjell mit der Olympiade 1994 in Lillehammer zu einem teuren saisonalen Skiparadies entwickelt.

Auf der anderen Seite der Eisenbahnbrücke stehen wir vor dem ebenfalls ausgedienten Eisenbahntunnel. Wie gern würde ich… Der verbogene Draht am Eingang verrät mir, dass auch andere diesen Gedanken haben. Aber der kleine Mann ist dabei und so vertage ich die Versuchung. Nun wird es die schmale Straße hoch gehen. Und wer weiß, vielleicht die nächste Abbiegung auf die provisorische Schotterstraße? Aber die entpuppt sich als Deponiezufahrt zu einer vorübergehenden Steinhalde, mit deren Material die Strömung des Lågen etwas gebremst werden soll.

Also geht es die schmale Straße weiter, in Serpentinen. An einem der Bergbauernhöfe sind die Bauern mit der Silage beschäftigt. Das Gras für den Winter ist gemäht, wird gewendet und dann trocken in Rollen gepresst und in Folie eingewickelt. Nun sitzen vier Bauern neben vier aufgereihten Traktoren im Gras und genießen ihr Pausenbrot.

Wir halten auch inne, denn wir erklimmen gerade etwa 600 Höhenmeter. Und die haben es in sich. Selten kommt mal ein Auto vorbei, mal auch ein Traktor. Den ein oder anderen kleiner werdenen Bergbauernhof lassen wir hinter uns und blicken durch manche Waldlücke hinunter ins Tal und auf die gegenüberliegende Stabkirche von Ringebu. Fast können wir nach Hause winken.

Die steilen Hänge, auf denen noch Landwirtschaft betrieben wird, abgestellte Fahrzeuge, die ins Museum könnten und hier zum Lost Place werden. Wie gern würde ich absteigen zu dem verlassenen Bulldozer…. Aber der kleine Mann- er muss heute genug leisten. Die ersten Ermüdungserscheinungen, der dritte Müsliriegel….

Wald kommt, auf der gegenüberliegenden Seite ein schroffer hoher Felsen. Davor weidende Kühe. Dann ein verlassenes Haus auf einer blühenden Wildblumenwiese. Die nächtste Kurve und über die bewaldete Seitenschlucht der Blick auf den Gipfel des Kvitfjells. Motivation für den Sohn, der gerade nicht weiß, ob die Idee richtig war. Aber wir haben das meiste der Höhe geschafft.

Schafe kommen uns auf der Straße entgegen. Sie bringen ihr eigenes Tempo mit. Und lassen sich von keinem Auto der Welt aus der Ruhe bringen. Zwischendurch trinkt das Lamm. Gott schuf die Zeit. Und die Tiere keinen Terminkalender. Sie sind im Hier und Jetzt. Schafswolle ist super, denke ich. Aber Lammfleisch- niemals. Friedliche Tiere, die zur Schlachtbank geführt werden, schon in der Bibel. Schafe, ich liebe sie. Und klar auch unser kleiner Sohn.

Sie sind naiv und fast distanzlos. Fast stubsen sie ans Objektiv. Genau das ist Reisen zu Fuß. Einzutauchen ins Leben. Teilnehmen an der Umgebung. Vielleicht sogar für einen Moment mit ihr eins werden. Keine Uhr, kein Telefon, was uns stören könnte. Wir sind im Hier und Jetzt. 

Bald der erste Hinweis auf das Skiressort des Kvitfjell. Für Millionen kann man hier eine Hütte kaufen. Hier trifft sich die Welt. Die eigene. Mit Jachten und Häusern. Hier, in traumhafter und so sensibler Natur. Sie nutzen den Schnee, solange er noch da ist, den sie selbst zerstören. Hoffentlich bleibt er noch lange da.

Aber jetzt ist Sommer. Und es ist heiß. Der Aufstieg wird flacher und bald… das Einstiegsportal des Kvitfjell. Grasbedeckte Luxushütten. Ein leeres Hotel. Hin und wieder Handwerker, die die Häuser für den Winter fit machen. Für die wenigen Wochen, wo sie wirklich gebraucht werden. Ökologisch gebaut. Aber wirklich ökologisch?

Ich mag die Architektur. Und frag mich doch: Wofür?

Angekommen im grünen Lost Place. So ordentlich, so gar nicht zugewuchert. So gar nicht Lost Place. Der Skilift ohne Gondeln, die abgestellten Pistenbullis und die Mechaniker, die diese über das Jahr hindurch in Ordnung halten. Wir dürfen auf das Werkstattgelände- wäre eine eigene Reportage wert. Aber heute zeige ich dem Junior den Pistenbulli, den er in dieser Form als Spielzeug hat.  Faszinierende Fahrzeuge, nur so zum Spaß.

Dann die letzten 300 Höhenmeter. Die mache ich alleine. Komme einen Tag später hier her. Der Junge will nicht mehr. Die Flaschen im Gebirgsbach aufgefüllt. Und ausgiebig zuvor selbst getrunken. Was gibt es besseres. Wir setzen uns in die Heide. Zwei Busse bringen Touristen in das riesige Hotel mit Blick auf Gudbrandsdalen. Wenigstens etwas Auslastung für diese Nacht.  Bald geht es zurück, nur noch Berg hinunter, dann durch Ringebu, hinauf zur Stabkirche, wo wir wohnen. Da schauen wir auf den Berg, auf dem wir heute waren. Der Kleine ist stolz. Seine Beine haben ihn heute 26km getragen. Die Nacht hat er Muskelkater. Ich selbst drei Tage lang.

Aber dann geht es wieder hoch. Ich möchte die letzten 300 Höhenmeter schaffen. Die sind steil. mmer wieder anhalten. Immer wieder Luft holen. Immer wieder nach unten schauen. Dann die Schneekanonen, die Flutlichter, die Sessellifte. Oben auf dem Kvitfjell Seilbahnstationen, die auch Ufos hätten sein können. Fast surreal. 

insgesamt sieben Lifte stehen für 15 markierte Abfahrten des Alpin Ski zur Verfügung. Sie transportieren bis zu 3.500 Menschen in einer Stunde. Die längste Abfahrt ist 3.500 Meter lang und überwindet einen Höhenunterschied von 854 Metern. Insgesamt gibt es 34 km präparierte Alpinabfahrten. Nein, da geh ich lieber wandern, als mir den Hals zu brechen, denke ich. Und doch bin ich fasziniert von der Kunst, derart wenig Angst und derart viel Körperbeherrschung an den Tag legen zu können. Das Kvitfell ist übrigens das größte Ski-Ressort in Norwegen.

Die jährliche Skiweltmeisterschaft hat sich die Piste des Olympiabakken reserviert. Wie schon damals zur Olympiade 1994 die Medailien hier verdient wurden.

Snowboarder haben eine eigene Anlage- Sprünge und Halfpipes inklusive. Die Langlaufloipen wären eher mein Fall. Für den Langlauf stehen 600km Loipen zur Verfügung.

Einen Moment verharre ich auf dem höchsten Punkt des Kvitfjell. Auf dem Gipfelmonument sind 1039 Meter Höhe eingraviert. Dann noch einen Abbieger zum Funkmast mit seiner Barakke. Nun ein lagsamer Abstieg auf den rutschigen steilen Hängen. Igendwann kommen wieder die ersten Schafe, mit ihnen die ersten Bäume und wieder zwei Busse in diese fast sommerverlassene Gegend. Bis bald, Kvittfjell. Im Winter sind wir wieder hier. Dann komme ich Dich wieder besuchen. Und erlebe Dich als weißen Berg.

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