Die norwegischen Grenzsoldaten melden am 6. Juni 1968 einen bevorstehenden Angriff Russlands
Am 6. Juni 1968 kommt es an der norwegisch-russischen Grenze zu einem Aufmarsch der russischen Streitkräfte. Die norwegischen Grenzsoldaten sehen sich schlagartig angriffsbereiten Panzern und Soldaten gegenüber. Sie wissen, dass sie keine Chance haben, einen Angriff zu überleben. Aber sie zeigen bis zum Schluss ihre Entschlossenheit und Besonnenheit.
„Ich saß auf dem Wachturm, als plötzlich Panzer auf uns schossen. In diesen kurzen und nervenaufreibenden Momenten war ich mir sicher, dass wir sterben würden“, so der ehemalige Grenzsoldat Harald Kjelstad in einem Interview gegenüber dem norwegischen Fernsehsender NRK .
Sein Arbeitsplatz war einer der etwa 10 Meter hohen Holztürme, die in ihrer Spitze nach drei Seiten verglast sind. Wie eine hochgebockte Waldhütte wirken sie, die Beobachtungsstationen entlang der norwegisch-russischen Grenze.
Seine Garnison fühlt sich am Rande eines dritten Weltkrieges, als am 6. Juni 1968 entlang der gemeinsamen Grenze zu Russland 290 Panzer und 15.000 Soldaten aufmarschieren und von ihrer Präsenz keinen Hehl machen. In der Luft schwirren Kampfflugzeuge, Russland hat alles aufgefahren, was es an militärischer Schlagkraft zeigen kann.
Es sind wohl die dramatischsten Stunden und Tage Norwegens während des Kalten Krieges. Die größte Sorge besteht in einem möglichen bevorstehenden Atomschlag gegenüber Norwegen. Die norwegische Regierung versucht, diesen Vorfall 30 Jahre lang geheim zu halten.
Die Ursache einer möglichen russischen Intervention
Die Welt befindet sich in den 1960er Jahren auf einen bis dahin unerreichten Höhepunkt des Kalten Krieges. Norwegen hat während des Zweiten Weltkrieges schmerzlich seine Verwundbarkeit erkennen müssen und ist in der Folge 1949 Gründungsmitglied der NATO.
Seit 1965 ist der konservative Otto Grieg Tidemand Verteidigungsminister in Norwegen und reist als Mitglied einer NATO-Delegation zu Gesprächen nach Moskau.
Die Menschen sind müde von der konstanten Anspannung und gegenseitigen Drohgebärde zwischen dem Warschauer Pakt und der NATO und sehen dieses Treffen als Zeichen einer möglichen Entspannung im Ost-West-Konflikt.
Der sowjetische Amtskollege des norwegischen Verteidigungsministers, Marschall Andrei Gretsko, betont die guten Beziehungen zwischen Norwegen und Russland. Genau wie Tidemand hat er im zweiten Weltkrieg als unerschrockener Kampfpilot gegen die Deutsche Wehrmacht gekämpft.
Doch dieser Umstand ist die einzige gemeinsame Verbindung der beiden Hardliner. Verstehen können sich die beiden nicht ansatzweise.
Russland will keine NATO-Truppen in Norwegen
Russland sind zum einen die NATO-Mitgliedschaft Norwegens, zum anderen aber auch die Manöver deren Mitglieder in Norwegen ein Dorn im Auge. Daraus macht man keinen Hehl. Tidemand kontert mit dem Mißfallen russischer Spionage und dem wiederholten Eindringen sowjetischer U-Boote in die eigenen Gewässer.
Eine imposante Vorführung vor den Toren Moskaus
Zu einem der Programmhöhepunkte für die Gäste der NATO gehört eine Vorführung auf einem russischen Truppenübungsplatz. Doch diese Vorführung lässt den Gipfel zwischen NATO und Warschauer Pakt eskalieren. Denn vor den Augen der NATO-Delegation wird ein offensichtlicher Atomschlag gegen Norwegen simuliert, ebenso eine in wenigen Tagen erfolgreiche Invasion durch russische Truppen.
Verständlicherweise explodiert Tidemand förmlich und droht mit umgehender Abreise. Die Stimmung kann sich aber einigermaßen beruhigen, wobei die Gesprächsatmosphäre die Temperaturen des Kalten Krieges wieder spiegelt.
Leben im norwegischen Wachturm
Fast acht Monate ist der Besuch der NATO in Moskau her. In Norwegen werden von der damaligen Geste unabhängig zwei weitere Manöver durchgeführt. Der ehemalige erbarmungslose Feind Deutschland bemüht sich um Freundschaft und nimmt zum ersten Mal an einem solchen Manöver in Norwegen teil.
Die Grenzsoldaten überwachen die norwegische Grenze, pro Schicht sind es 120. Sieben Wachtürme stehen auf der fast 200 Kilometer langen Grenze zwischen Ost und West, zwischen dem südlichsten Grenzpunkt Treriksrøysen im Pasviktal und dem nördlichsten Grenzpunkt Jakobselv an der Barentssee. Das leichteste, was die Grenzsoldaten tragen, ist ihre kleinkalibrige Waffe, das schärfste, was sie bei sich haben, ist ihr hochauflösendes Fernglas. Oben in der Aussichtskammer mit ihren in allen Himmelsrichtungen zeigenden Fenstern hängt das Telefon mit direktem Draht zur Garnisonsleitung, zusätzlich befindet sich ein Funkgerät im unteren Bereich. Von den Holztürmen kann man bis weit nach Russland hineinschauen.
Im Falle eines Krieges sollen sie einen Guerillakrieg führen, bis die NATO vor Ort einschreiten kann. Wohlwissend, dass ein Angriff Russlands das eigene Todesurteil bedeutet.
In der Woche des 6. Juni 1968 beginnt die Wache wie gewohnt um 12:00 Uhr nachts und endet morgens um 08:00 Uhr. Nebel und leichtes Schneetreiben verhindern eine gute Sicht nach Osten. Und so versieht man seinen Dienst und kämpft gegen Monotonie und Müdigkeit.
Der bevorstehende russische Angriff auf Norwegen am 6. Juni 1968
Wie aus dem Nichts dröhnen die schweren Motoren russischer Panzer auf der anderen Flussseite des Pasvik. Auf den nahen Straßen Russlands gibt es rege Bewegung, Etwa 290 russische T54 Panzer, weitere 4000 Fahrzeuge, Fallschirmjäger und mehrere 10.000 Soldaten bringen sich in Stellung und zielen auf die Wachtürme und weitere ausgewählte Ziele auf norwegischer Seite.
Sofort sind alle hellwach und genauso schnell wird die Führung in der Kaserne telefoniert. Schüsse sind zu hören und das Mündungsfeuer der Kanonen zu sehen. Hatte man in den letzten Tagen an der ein oder anderen Stelle entlang der Grenze Bewegungen auf russischer Seite festgestellt, so deutete nichts auf eine bevorstehende Invasion hin.
Alle führenden Militärs Norwegens sind in dieser Zeit in der Region Troms, um das NATO-Manöver „Polarexpress“ durchzuführen. Die zurückgelassenen Offiziere scheinen mit der akuten Bedrohungslage völlig überfordert zu sein.
Die Grenzsoldaten vor Ort werden ihre Positionen nicht mehr verlassen und Tag und Nacht über die Telefone alle Bewegungen melden und auf weitere Anweisungen warten.
Entgegenzusetzen hat das Militär in der Finnmark nichts. Weder Panzer noch andere schwere Waffen. Für die Grenzsoldaten, die schlicht Angst um ihr Leben haben, wechselt die Bereitschaft, auf jeden Russen zu schießen, der über die Grenze tritt mit der Einsicht, im Fall des Falles schnellstmöglich in die Wildnis zu fliehen und sich zu verstecken.
Plötzlich schießen einige Panzer auf die Türme, die norwegischen Grenzer sehen die Mündungsfeuer und warten auf den Einschlag. Doch es kommt nur der Knall. Anspannung, Todesangt und schlagartige Erleichterung wechseln sich in rasender Geschwindigkeit ab. Schon wieder habe sie ein Schuss verfehlt. Verlassen die norwegischen Soldaten den Turm, werden sie von den Waffen der Russen anvisiert. Reiner Psychoterror, allerdings, wie die Angegriffenen zunehmend merken, mit Übungsmunition.
Nur eines Haaresbreite bis zum Krieg
Der norwegische Verteidigungsminister Otto Grieg Tidemand ist außer sich vor Wut, als der direkt informiert wird Auf die Frage, was die Soldaten denn tun sollen, verweist er auf die königliche Anordnung im Falle eines Angriffes vom 10.Juli 1949, die in allen militärischen Amtsstuben Norwegens hängt.
Der mitteilende Offizier fragt ungläubig, dass es dann Krieg bedeuten würde, was Otto Grieg Tidemand mit einem kurzen „Ja“ beantwortet, eh er den Hörer aufknallt.
In Norwegen wird zu jener Zeit die Mitgliedschaft in der NATO durchaus kritisch gesehen und Otto Grieg Tidemand gewinnt durch die offene und gut sichtbare Art des vermeintlichen Angriffs den Eindruck, dass Russland mit diesem Scheinangriff die politische Debatte nachhaltig beeinflussen will. Das Spiel ist sehr riskant, ein kleiner Funke kann ein Inferno auslösen.
Am folgenden Nachmittag kommen die Offiziere zu den Grenzsoldaten, geben ihnen schärfere Munition, die sie am besten massenhaft bei sich tragen sollen und sie geben den jungen Männern einen braunen Umschlag mit geheimen Anweisungen, wie sie mit der Situation umzugehen haben. Zu den Anweisungen gehört auch eine 30jährige Schweigepflicht über diese Vorfälle.
Nach acht Tagen ist der Spuk, diese russische Bedrohungsdiplomatie, vorbei. Auch, wenn es zur See und zur Luft immer wieder Grenzverletzungen gibt, gehören diese Tage zu den bedrohlichsten seit dem Zweiten Weltkrieg. Besondere Aufmerksamkeit bekommt die Erfahrung der jungen norwegischen Soldaten, mit dieser Bedrohung, Angst und Hilflosigkeit umzugehen.
Nachher ist man schlauer, auch beim norwegischen Militär
Im Nachgang zu diesen Ereignissen wird die Gefechtsbereitschaft und die Überwachung an der norwegischen Grenze Russland gegenüber erhöht. Die Ausrüstung für einen Einsatz befindet sich seitdem direkt in der Finnmark, um der beeindruckenden Mobilisierungsgeschwindigkeit auf russischer Seite besser begegnen zu können. Denn eines hat Russland mit dieser Machtdemonstration sichtbar gemacht- seine Strategie.
Noch heute spielt dieser Vorfall in strategischen Überlegungen eine prägnante Rolle.
Überraschenderweise wussten die russischen Nachbarn genauso wenig wie die norwegischen Grenzsoldaten. Ihnen und der Bevölkerung wurde mitgeteilt, dass auf norwegischer Seite US-Soldaten aufmarschiert seien. Zudem nahmen an den NATO-Manövern in Norwegen auch die durch den Zweiten Weltkrieg so verhassten Deutschen als Sanitäter teil. Die Russen wollten keinen deutschen Soldaten mehr an ihrer direkten Grenze sehen.
Letztendlich war der russische Aufmarsch wohl ein ganz persönliches Spielchen gegen den norwegischen Verteidigungsminister als Antwort auf die eisigen Gespräche im Oktober zuvor. Offensichtlich wurde ihm beim Abflug von Moskau eine kryptische Nachricht übermittelt, deren Inhalt eine Überraschung ankündigte.
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