Kjerringøy – eines der best gehüteten Geheimnisse Europas
Eigentlich möchten wir auf die Lofoten. Schließlich fährt heute jeder Nordlandtourist dorthin. Doch in Bodø angekommen, beschließen wir einen Abstecher ins Freilichtmuseum Kjerringøy auf die gleichnamige Halbinsel. Und da ist es mir passiert…
Es ist derzeit ja die beste Marketingstrategie, wenn man Orte als verlassen, als unentdeckt, als geheime Tipps vermarktet. Wenn möglich, machen sich dann Scharen von Wohnmobilfahrern, Selfi-Jüngern und Flug-Junkies auf, sich an solchen Orten selbst zu fotografieren und dann möglichst zügig weiter zu ziehen. Ob das der Sinn von Lonley Planet war, in einer seiner Ausgaben die Halbinsel Kjerringøy als eines der best gehüteten Geheimnisse Europas zu beschreiben, wäre zu weit gegriffen. Vielmehr war der Autor verliebt in Kjerringøy, ziemlich verliebt. Und ich muss zugeben, mir ergeht es genau so. Aber zum Glück hat Kjerringøy ja Platz für zwei.
Eigentlich wollten wir auf die Lofoten
Eigentlich wollten wir ja auf die Lofoten. Da fährt aber mittlerweile jeder hin. So schön es auch dort ist, haben wir genau aus diesem Grund umdisponiert und fahren die nördliche Straße von Bodø aus immer der Küste entlang. Wie so oft auf endet solches Unterfangen an den Küsten Norwegens vor einer Fähre. nach Kjerringøy kommt man auch nur mit einer Fähre. Der Fähranleger ist gerade einmal 30 Kilometer nördlich von Bodø entfernt. Eine traumhafte und gar nicht so kurze Überfahrt weiter verlassen wir den Kahn mit neun PKW und einem Transporter. Und weil wir gerne im Urlaub die letzten sind, lassen wir zunächst alle anderen vor.
Zugegeben, das Freilichtmuseum Kjerringøy mit seinem alten Handelsplatz (gammle handelsted Kjerringøy) steht schon lange auf unserer Wunschliste. nun liegt es vor uns, in greifbarer Nähe. Kaum sind wir ein paar hundert Meter gefahren, da ist es mir passiert. Ich bin verliebt. Verliebt in diese Landschaft mit ihren glitzernden und schroffen Bergen am Horizont, ihren schmalen weißen Sandstränden und dem türkisfarbenen Wasser. Und je weiter wir fahren und je öfter wir anhalten, wird das immer schlimmer.
Irgendwo am felsigen Ufer bildet ein frisch gestrichenes Bootshaus einen leuchtenden Farbtupfer. Kein Auto und auch kein Mensch weit und breit. Dafür aber Schafe und Kühe. Den Schafen scheint Kjerringøy in diesem Bereich zu gehören, sie bevölkern selbstbewusst in einem Pulk die Straße, aber, wie haben Zeit. Und Muße. Bald werden wir den Ort Kjerringøy erreichen. Und mit ihm die malerische Bucht, den alten Handelsplatz Kjerringøy mit seiner weißen Holzkirche.
Alter Handelsplatz Kjerringøy / Gamle Handelssted Kjerringøy
Im 19. Jahrhundert war Kjerringøy ein sehr lebendiger und reicher Handelsplatz. Und zeitweise sogar der reichste Handelsplatz in ganz Nordland. Die Grundlage für den Wohlstand bot das Meer mit seinem reichen Fischbestand vor den Lofoten. So waren es auch die Fischer von den benachbarten Lofoten, die ihren Fang hierher verkauften. Von Kjerringøy aus wurde der Fisch getrocknet, in Salzwässer gelegt und dann beispielsweise nach Bergen weiter verkauft. Mit dem Fischhandel etablierte sich in Kjerringøy ein Marktplatz, der nun alles anbot, was die Menschen benötigten. Denn Fischer, die etwas verkauften, hatten auch Geld, um wieder etwas zu kaufen…
Was bis etwa 1820 in bescheidenem Maße begann, erlebte im Anschluss einen regelrechten Boom. Für den Fisch wurden gute Preise erzielt und der Handel florierte. Doch ab dem Jahr 1875 ging das Geschäft stetig bergab, bis der alten Handelsplatz Kjerringøy letztendlich aufgegeben wurde.
Nach dem Jahr 1820 entstand die Siedlung in Kjerringøy, die heute das Freilichtmuseum bildet. Die historischen 15 Häuser und Gebäude sind erhalten geblieben, nur die Kirche wurde abgerissen und an ihrem heutigen Platz wieder aufgebaut.
Im Hauptgebäude gibt es eine empfehlenswerte Tonbild-Schau und eine interessante Ausstellung, natürlich mit einem ganz urigen Café. Und wo es in Norwegen ein Café gibt, kann man auch Waffeln bestellen. Mit Kaffee, so viel man trinken mag. Und wo man in Norwegen Waffeln bestellen kann, sind wir dabei.
Das Freilichtmuseum Kjerringøy ist über die Ausstellung der Gebäude auch ein herrlicher Park für ungestörtes SEIN, für Spaziergänge, Traumtänze und in Luft und Landschaft gucken. Viele Stunden werden wir hier mit unseren kleinen Kindern verbringen, eh wir zurück zum Bulli gehen, den wir gegenüber an der Kirche geparkt haben.
Der kleine Hafenort Kjerringøy
Kerringøy, das ist weit mehr als das wirklich sehenswerte Freilichtmuseum. Kjerringøy ist ein wunderbarer Hafenort mit einen kleinen Supermarkt, mit der benachbarten Backtube inklusive einem Café, wie es gemütlicher kaum sein kann, mit einem urigen und bescheidenen Fischer- und Sportboothafen und einem Hotel, dass seinen Gästen eine Übernachtung auch in nachempfundenen Bootshäusern anbietet mit direktem Blick auf das Wasser.
Autoverkehr gibt es kaum, so laufen wir immer wieder die kurzen Strecken durch Kjerringøy und egal, wo wir sind, sehen und atmen wir das Meer.
Und so sehen wir auch, wie von der See her eine dichte Nebelwand, vielleicht nur 100 Meter hoch, herüber zieht und die Halbinsel Kjerringøy bald in undurchsichtige Watte verhüllen wird.
Wir fahren auf der Halbinsel über die schmale Straße weiter in den Norden, immer entlang der Küste von Kjerringøy. Verkehr kommt uns kaum entgegen, irgendwann stehen ein paar Rentiere auf der Straße. Straßen gibt es hier kaum, auch die Ortschaften sind mehr als übersichtlich. Auf der gesamten Halbinsel Kjerringøy teilen sich gerade einmal 575 Menschen ihr Zuhause. Fischfang und Landwirtschaft, das scheinen die beiden Haupteinnahmequellen zu sein.
Die touristische Saison ist mit fast 10 Wochen Dauer sehr kurz. Da hilft es vielleicht, dass wildes Camping auf Kjerringøy schlicht nicht möglich ist, vielleicht hält das neben den engen Straßenverhältnissen und nicht vorhandenen befahrbaren Buchten auch große Wohnmobile wohltuend ab. Genau eine solche Bucht haben wir entdeckt, gerade groß genug für unseren Bulli. Denn es gibt aus touristischer Sicht nur eine schmale Straße, die FV 571, an der vielerorts keine zwei PKW aneinander vorkommen. Mitunter ternnt nur eine Leitplanke die Straße von dem Abgrund ins Meer. Alle anderen Straßen führen in die kleinen Wohngebiete und zu den Höfen.
Und genau auf dieser Straße möchten wir so weit in den Norden der Halbinsel Kjerringøy kommen, wie es uns auf dieser Halbinsel möglich ist. Das wir an diesem Punkt tatsächlich halten und bleiben dürfen, das hätten wir uns nicht zu träumen gewagt.
Eine kleine Ausbuchtung, in der die Baufahrzeuge normalerweise ihr Material abladen oder auf der schmalen Straße auch wenden, dürfen wir nutzen und hier alles für unser Abendessen aufbauen.
Autos werden hier nicht mehr fahren, denn die Straße ist in wenigen Metern für Stunden gesperrt, um die steilen Hänge gegen Felssturz zu sichern. Von hier aus, dem tatsächlich nördlichsten Punkt von Kjerringøy, genießen wir ein einzigartiges Panorama über den Karlsøfjord zu den benachbarten unbewohnten Inseln. Gelegentlich tuckert ein Frachtschiff oder Fischkutter in der vor uns befindlichen Fahrrinne und gibt uns ein Gefühl für die Größe dieses Fjordes. Der Stimmung nach müsste gleich eine Schule mit Walen hier durch schwimmen. Und so ganz unwahrscheinlich dürfte das zur Heringssaison gar nicht sein.
Lust auf Wandern auf Kerringøy
Wer die Natur und die Abgeschiedenheit liebt, aber überschaubare und ruhige Strecken wandern möchte, der wird auf Kjerringøy die zahlreichen ausgewiesenen Wanderpfade zu schätzen wissen. Die Distanzen sind überschaubar, die Umgebung einzigartig und so traumhaft wie die ganze Insel. Wälder, Seen, Fjorde und schroffem teils schneebedeckte Felsen auf Kjerringøy oder seinen Nachbarn wechseln sich in kurzen Intervallen ab. Zu den Pfaden führen die schmalen Straßen und bieten kleine Parkmöglichkeiten für ein der zwei PKW.
Und so führt auch ein schmaler, unbefestigter Weg quer durch das kleine Binnenland von Kjerringøy auf die östliche Seite, eh er sich einige wenige Kilometer entlang des Fjordes zieht. Vorbei geht es an vereinzelten Bootshäusern, Ferienhütten und einem grandiosen Blick auf das gegenüber des Wasser liegenden Gebirges. In der kleinen Fischersiedlung Øyjorda ist denn auch Schluss. Die Umgebung ist so abgeschieden, dass man unsere Anwesenheit fast argwöhnisch beäugt.
Irgendwann hat man auch hier jeden Stein gesehen
Es ist so langsam Zeit, die Halbinsel Kjerringøy wieder zu verlassen. Drei volle Tage haben wir uns hier aufgehalten. Das ist ganz schön lang für einen solch kleinen Ort. Aber auch ganz schön kurz für einen so schönen Ort. Nicht ohne Grund leben hier Menschen, die täglich zur Arbeit nach Bodø fahren und nicht ohne Grund bauen Bewohner der 30 Kilometer entfernten Stadt Bodø genau hier ihre Ferienhäuser.
Langsam machen wir uns auf, am anderen Morgen, und schleichen förmlich, gedankenversunken, zur Fähre, die uns wieder in Richtung der Europastraße E6 nach Norden bringt. Wehmütig schauen wir zurück und lassen ein Stück Herz hier- hier in Kjerringøy.
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