Die Reinkarnation des Rio Reiser in Gestalt des Jan Plevka (Selig)
Rio Reiser ist tot. Doch auf der Flensburger Hofkultur traf ich ihn wieder. Er heißt heute Jan Plevka. Und wirkt so jung wie zu seinen wildesten Zeiten. Eigentlich glaube ich doch an Tod und Ewigkeit. Aber bei Rio Reiser bin ich mir da grade nicht mehr so sicher. Zumindest aber verschmilzt Jan Plewka mit dem nachhallenden Leben des Rio Reiser, ohne sich selbst darin zu verlieren. Vielleicht ist der Auftritt eine Chance, Rio Reiser zu entdecken und Jan Plewka zu erleben…
Rio Reiser lebte in seinem letzten jungen Lebensabschnitt nur wenige Kilometer von uns entfernt, auf seinem kleinen Hof in Fresenhagen an der Grenze zu Dänemark. Sein Leben war wild, bunt, mutig, nachdenklich und ohne Umwege sehr direkt. In einem Bildband von Jim Rakete entdeckte ich ein Foto von Rio Reiser als ganz normaler junger Mann in Nordfriesland. So nahbar das Bild, so nahbar war auch Rio Reiser. Wenn man es denn wollte. Gunnar Arstrup, Keyboarder der ehemaligen Band ECHT und Geschäftsführer der Flensburger Hofkultur, hält noch heute Rio Reiser für den vielleicht besten Texter deutscher Songs.
Das diese für die heutige Zeit doch ziemlich alten Texte unter die Haut gehen, zeigt seit vielen Jahren Jan Plewka. Vielleicht ist Jan Plewka (Selig) für Rio Reiser genau das, was die Enkel von Compay Segundo (Buena Vista Social Club) mit Eko De Siboney sind. Kaum hörbar startet Jan Plewka die musikalische Biografie des Rio Reiser und bringt das schnatternde Publikum zu schweigen. Unüberhörbar bringt er später das Publikum in Wallung. Nachdenklich, bunt, wild, mutig. Wie Rio Reiser selbst. Und dabei unnahbar nahbar.
Das Leben des Rio Reiser
Rio Reiser kam am 9. Januar 1950 als Ralph Christian Möbius in Berlin zur Welt. Er war jüngster Sproß dreier Kinder. Er verließ das Gymnasium, um eine Ausbildung zum Fotografen zu machen. In der dieser Zeit brachte er sich selbst das Spielen von Cello, Gitarre, Klavier und manch anderem Instrument bei. Die Beatles und Rolling Stone begeisterten ihn.
Ralph Christian Möbius schien sein eigenes Leben beim Lesen des Psycho-Romans Anton Reiser von Karl Philip Moritz dort wiederzufinden, dass er sich mit der beschriebenen Figur identifizierte. So nahm er fortan den Künstlernamen Rio Reiser an. Tatsächlich finden sich zwischen Roman und dem Leben von Rio Reiser manche Parallelen.
Im Januar 1966 traf er den Gitarristen R.P.S. Lanrue und beide wollten zukünftig gemeinsam Musik machen. Zunächst gründeten sie die Band BEAT KINGS und traten mit einigen Coversongs des Genres auf. Noch im gleichen Jahr gründeten sie die Rockband DE GALAXIS, in der sie auch eigene Stücke mit einmischten.
Rio Reiser und Ton Steine Scherben
Rio Reiser war nach durch den Vater beruflich bedingten Umzügen nach Süddeutschland nun im Großraum Frankfurt hängen geblieben. Die Musik wurde sein Lebensinhalt und er brach seine Ausbildung zum Fotografen ab. Es zog ihn nach West-Berlin, seither ein soziologischer-kultureller Schmelztiegel. Seine beiden Brüder beauftragten ihn, die Beat-Oper „Robinson 2000“ zu kreieren. Der erhoffte Erfolg blieb aber aus. Wer weiss…
Rio Reiser und R.P.S. Lanrue gewannen den Bassisten Kai Sichtermann und zunächst auch den Schlagzeuger Wolfgang Seidel, um die Band TON STEINE SCHERBEN zu gründen. Ihren ersten Live-Auftritt hatte TON STEINE SCHERBEN in dem völlig aus dem Ufer gelaufenen Love and Peace Festival auf der Ostseeinsel Fehmarn, welches von Woodstock inspiriert war. Dort hatte auch Jimmy Hendriks seinen letzten Auftritt.
Mit Beginn der 1970er Jahre wurde es in Deutschland unruhig. Die Linke radikalisierte sich, um gegen die aus dem Dritten Reich immer noch in Amt und Würden stehenden Nazis aufzubegehren und die ungleiche Verteilung zwischen Arm und Reich oder den ungezügelten Konsum anzuprangern. Die Terrororganisation Rote Armee Fraktion sollte Deutschland in den nächsten Jahren in Angst und Schrecken versetzen.
Die jungen Strömungen der Linken fanden in den Texten von Rio Reiser schon früh ihren Ausdruck und sind damit heute so aktuell wie zu ihrem Erscheinen. „Warum geht es mir so dreckig“ aus dem Jahr 1971 oder „Keine Macht für Niemand“ aus dem folgenden Jahr spiegelten die Gedanken der linken Bewegung. Der auf letzterem Album eingespielte „Rauchhaus Song“ wurde Hymne der Hausbesetzerszene. In Westdeutschland wurde TON STEINE SCHERBEN mit ihrer aufbegehrenden und ungeschminkten Art schnell Kult.
Als Rio Reiser nach Fresenhagen zog
Die Musiker von TON STEINE SCHERBEN fühlten sich mit mit ihrer Musik zunehmend von der linken Szene instrumentalisiert. So zog die Band 1975 in einen der entlegensten Winkel der Republik, nach Fresenhagen in Nordfriesland. Hier entstand auch das berühmte Porträt von Jim Rakete, welches Rio Reiser mit E-Gitarre vor einem Kaninchenstall zeigt.
In Fresenhagen wurde die Musik deutlich melancholischer und intimer, den politischen Themen zusehends abgewandt. Rio Reiser zeigt hier vielleicht seine verletzliche und private Seite in seinem durchaus energiereichen Leben. Im Jahr 1975 entstand beispielsweise das Album „Wenn die Nacht am tiefsten“.
Auch nach außen wurde es ruhiger. Fresenhagen war vielleicht so etwas wie ein Cocon. In den nächsten Jahren entstanden hier musikalische Beiträge z.B. für das schwule Theaterensemble „Brühwarm“ , aber auch Kindermusik und Hörspiele.
Das Ende von TON STEINE SCHERBEN – Rio Reiser geht Solo
Ab 1981 ging es wieder auf Tour und die war eigentlich sehr erfolgreich. Aber ein inkompetentes Management und der exzessive Lebensstil brachten ein Minus von 300.000 DM in die Kasse der TON STEINE SCHERBEN.
Die Managerin und bei den noch jungen GRÜNEN engagierte Politikerin Claudia Roth sollte es zusammen mit Misha Schoeneberg richten. Es folgten weitere Tourneen und das Livealbum „Berlin 84“. Die Schulden der Band waren mittlerweile auf 200.000 DM gesunken, doch löste sich TON STEINE SCHERBEN 1985 auf.
Bereits 1984 hatte die Ex-Sängerin von IDEAL Rio Reisers erste Single produziert. Mit neuem Management entstand 1985/86 Rio Reisers ersten Solo-Album.
Titel wie „Junimond“ oder „König von Deutschland“ machten Rio Reiser in kurzer Zeit schuldenfrei. Politisch blieb Rio Reiser aber mit seiner Musik weiterhin aktiv. So spielte er auf einer Anti-Atomkraft-Demo das letzte Lied auf dem Klavier: „Over the Rainbow“ war der Abschluss des siebenteiligen Anti-WAAhnsinns-Festivals mit zuletzt 100.000 Besuchern im Jahr 1986.
Rio Reiser als Schauspieler, Texter und Autor
Während Rio Reiser musikalisch unterwegs war, widmeten sich seine Brüder dem Schauspiel. Das führte dazu, dass auch Rio gelegentlich eine Rolle übernahm. Mit „Jonny West“ spielte Rio Reiser im Jahr 1977 seine erste Filmrolle. In der Tatortfolge „Im Herzen Eiszeit“ übernahm er 1995 die Rolle eines Hausbesetzers.
Genauso textete er aber auch Songs für Größen wie Marianne Rosenberg oder schrieb Bühnenstücke. Politisch bewegte sich Rio Reiser immer im linken und im grünen Spektrum und unterstützte immer mal wieder Parteien wie Die Grünen, die SPD oder die PDS in den Wahlkämpfen. Auch inhaltlich findet sich seine politische und gesellschaftliche Einstellung fast durchgehend in seinen Werken.
Rio Reiser geht aus dieser Welt
Rio Reisers Leben war intensiv. Mit vielen Facetten. Doch am 20. August 1996 endete es infolge einer lebensgefährlichen Erkrankung, vermutlich verursacht durch seine Alkoholprobleme. Auf seinem kleinen abseits gelegenen Anwesen in Fresenhagen durfte er mit einer Sondergenehmigung beerdigt werden. Lange Zeit wurde der Hof von Rio Reiser zur einem Ort, das Andenken an ihn zu bewahren. Doch, so turbulent das Leben von Rio Reiser, so auch das finanzielle Scheitern zum Erhalt des Rio Reiser Hofes im Jahr 2011. Eine Insolvenz führte zum Verkauf und damit verbunden zu einer Umbettung seines Leichnams nach Berlin auf den alten St. Matthäus Friedhof.
Rio Reiser lebt – Dank an Jan Plewka mit seiner schwarz-roten Heilsarmee
In der Zeit des Karrierestart von Rio Reiser kam 1970 im schleswig-holsteinischen Ahrensburg Jan Plewka zur Welt. Irgendwann hörte er bei einem Schulfreund „Ton Steine Scherben“. Sofort war er angefixt von dieser Musik und den aufbegehrenden Texten. Musik muss in seinen Genen liegen. Denn mit neun Jahren gründet Jan Plewka mit „Blackfire“. Im gleichen Jahr wird sein Talent entdeckt und er bekommt Aufgaben als Synchronsprecher für das Studio Hamburg.
Jan Plewka schafft es als Darsteller und auch als Autor in die Sesamstraße. Weitere Engagements folgen. Er leistet seinen Zivildienst, absolviert seinen Abschluss in Graphik und Gestaltung und gründet 1992 die berühmte Band „Selig“.
Ebenso schreibt schreibt den Soundtrack zu „Knockin’ on Heaven’s Door“. Sein Song „Was Dich so verändert hat“ wird musikalischer Bestandteil des beachteten filmischen Sozialdramas „Die Welle“. Immer wieder ist Jan Plewka seitdem in Filmproduktionen zu sehen.
Im Jahr 2006 startet Jan Plewka sein Projekt „Rio Reiser“. Er singt Rio Reiser ohne Eigeninterpretation mit eigener Stimme. Er versucht nicht, Rio Reiser nachzuahmen, zu klonen oder auf sich zu übertragen. Er singt die Werke von Rio Reiser quer durch alle biografischen Abschnitte dessen kurzen intensiven Lebens mit eigener und wirklich unverkennbarer Stimme.
Bereits im Folgejahr übernimmt er dessen Rolle im Doku-Film „Alles Lüge – Die Wahrheit über Rio Reiser“. In dem Moment, in dem er einen der vielseitigen und politischen Songs auf der Bühne und mitten im Publikum wiedergibt, wird dieser zum persönlichen Lieblingshit von Jan Plewka.
Ich habe auf der Flensburger Hofkultur erlebt, wie hochkonzentriert und emotional gefangen Jan Plewka in jedem Moment der Lieder von Rio Reiser ist, wenn er sie vorträgt.
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