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Feinde für acht Tage: Finnmark am 6.Juni 1968 

Finnmark, 6.Juni 1968 – Norwegen am Rande eines Krieges

Die Finnmark am 6.Juni 1968. An diesem Tag verstirbt der amerikanische Präsidentskandidat Robert Kennedy (Bruder des John F. Kennedy) an den Folgen des Attentats vom 4/5.Juni 1968. Die Welt befindet sich im Kalten Krieg. Norwegen, im zweiten Weltkrieg durch die Sowjetunion im Norden befreit, hat seitdem eine direkte Grenze zu Russland. Und an dieser Grenze stehen plötzlich Panzer und Soldaten des Warschauer Paktes.

Die Menschen in der Finnmark haben traditionell eine positive Einstellung zu Russland, seit Jahrhunderten gibt es Handelsbeziehungen. Die Umgebung um Sør Varanger war vor dem Zarenreich einst gemeinsame Verwaltungszone mit Russland, eh man sich auf eine feste Grenze einigt. Zu der Zeit gehört auch Finnland noch zum russischen Nachbarn.

Einmal mehr unterstrichen wird das Zusammengehörigkeitsgefühl mit Russland, als die Rote Armee Kirkenes im Jahr 1944 von der Deutschen Wehrmacht befreit. War allerdings seit der Loslösung Finnlands von Russland der direkte Nachbar, so gibt es nun die direkte Grenze mit Russland auf einer Länge von fast 200 Kilometern.

Norwegen ist Gründungsmitglied der NATO und unterhält damit die Nordflanke zum Warschauer Pakt, Finnland dagegen gehört zu den neutralen Staaten.

Machtdemonstration der NATO in Mittelnorwegen, Reaktionen von Russland

Gilt es im Kalten Krieg, den Gegner durch Machtdemonstrationen abzuschrecken, gehören auch Großmanöver beider Militärblöcke dazu. So findet im Juni 1968 ein großes Manöver um Tromsø statt, koordiniert von dem englischen Flugzeugträger „Bullwark“ im Hafen von Harstad. Zum ersten Mal befinden sich seit dem Zweiten Weltkrieg wieder deutsche Soldaten auf norwegischem Gebiet, denn Deutschland beteiligt sich an diesem Manöver mit der Fregatte „Köln“.

Das Misstrauen des Westens gegenüber dem Osten kann größer nicht sein, umgekehrt ist es kaum anders. Doch die etwa 200 Kilometer lange norwegisch-russische Grenze wird von 600 norwegischen Grenzsoldaten bewacht. Einer von ihnen ist der 20jährige  leicht bewaffnete Harald Kjelstad. Er steht alleine oben auf dem Wachturm an der Grenzstation Svanvik. Seine beiden Kameraden schlafen derweil auf dem Boden des Wachhauses.

Er wird gleich bemerken, dass wie aus dem Nichts plötzlich 210 russische Panzer und 15.000 Soldaten entlang der gemeinsamen Grenze aufmarschiert sind.

Angst oder Abenteuerlust – Spiel oder Krieg an der norwegischen Grenze zu Russland

Harald Kjelstad wie auch seinen Kameraden ist klar, warum sie an diesem Ort ihren Dienst tun, sie wissen, wie brandgefährlich diese Grenze ist. Und sie wissen, dass sie keine Chance hätten, wenn die Russen kommen.

Russland waren die NATO-Übungen in Norwegen schon seit Jahren ein Dorn im Auge, immer wieder haben sie gewarnt, sich solche Manöver nicht gefallen zu lassen und ihre Bereitschaft bekundet, gegebenenfalls zu intervenieren. International ist der Kalte Krieg das beherrschende Thema. Zu dieser Zeit bündelt die USA ihre Kräfte immer stärker im gnadenlosen Vietnamkrieg. Und nun könnten Harald Kjelstad und seine Kameraden die ersten Botschafter Russlands werden für die unmissverständliche Mittelung, sich diese Bedrohungen nicht weiter bieten zu lassen.

Alles andere als lautlos

Die norwegischen Grenzsoldaten nehmen zusehends Schussgeräusche wahr und sehen Mündungsflammen aus den Kanonenrohren der russischen Panzer. Sie werden von den Kanonen regelrecht anvisiert und dann wird auf sie geschossen. Sie warten auf den Einschlag und damit auf ihren Tod, doch den Schüssen folgen keine Granaten.  Die russischen Soldaten machen auch keinen Hehl aus ihrer Anwesenheit, sie zeigen sich ganz offensichtlich in ganzer Größe. Umgehend machen sie Meldung an ihre Garnison in Sør Varanger. In der festen Überzeugung, dass ein unmittelbarer Angriff bevorsteht, wird sie sofort in Gefechtsbereitschaft versetzt. Denn noch nie gab es einen solchen Aufmarsch an der norwegischen Grenze seit dem Zweiten Weltkrieg.

Harald Kjelstad wird die nächsten Tage durchgehend auf seinem Wachturm verbleiben, genau wie seine 600 Kameraden entlang der Grenze. Aufregend und angespannt mit der Gewissheit, einen Kriegsausbruch nicht überleben zu können.

Tage der Ungewissheit

Der Befehl an die norwegischen Grenzsoldaten ist unmissverständlich: Es würde sofort auf jeden russischen Soldaten geschossen, der die Grenze überschreitet. Allerdings fühlen sich die norwegischen Soldaten von ihrer Führung in Oslo im Stich gelassen. Denn trotz umgehender Meldung an den Geheimdienst, der für die Weiterleitung an die Minister zuständig ist, kommt von dort keinerlei Reaktion. Es gibt widersprüchliche Informationen, dass der Geheimdienst in Oslo  für die Weiterleitung an den Verteidigungsminister Otto Grieg Tidemand bis zu 12 Stunden braucht.

Unter den Tisch gekehrt, fast…

Dieser wertet den Aufmarsch als reine Machtdemonstration der Russen und gibt sich unbeeindruckt. Beeindruckter sind die Menschen in der Ostfinnmark und sie fühlen sich ratlos und bedrängt. Umgehend beginnen die lokalen Medien, das Geschehene zu berichten. Doch genauso umgehend wird die Berichterstattung durch das norwegische Verteidigungsministerium zensiert. Niemand solle über diesen Aufmarsch erfahren. Den Soldaten selbst wird Schweigepflicht für die nächsten 30 Jahre auferlegt.

Am 11. Juni beginnen die russischen Soldaten mit ihren Abzug. Erst 40 Jahre später wird offensichtlich, dass die Russen parallel zum NATO-Manöver eine eigene Übung im Zeitraum 6. – 11. Juni 1968 an der Grenze zu Norwegen abgehalten haben.

Ein Funke kann ein Inferno verursachen

Aus heutiger Sicht kann man die Besonnenheit aller Beteiligten an der Grenze nur bewundern. Ein scharfer Schuss als Verteidigung, ein versehentlicher Grenzübertritt, all das hätte ein Inferno bis hin zum dritten Weltkrieg auslösen können. Über die Anspannung der Soldaten und den Auslöser eines solchen Manövers auf russischer Seite berichten wir in weiteren Artikeln.

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